Alles nur nicht konform

Dienstag, 9. April 2013

So sah England vor der Machtübernahme von Margaret Thatcher aus!

Hier ein Artikel aus besseren "Zeiten", als der Journalismus noch alle Seiten einer Problematik durchleuchtete.


Großbritannien: Unheilbar gesund
VON Dieter Buhl und Michael Naumann | 04. Mai 1979 -07:00 Uhr
Der wirtschaftliche Niedergang scheint unaufhaltsam: Wie „unregierbar“ ist
die Insel?
Von Dieter Buhl und Michael Naumann


„Niedergang“, decline, war das Reizwort der englischen Wahlkampagne. Wie ein
wagnerianisches Leitmotiv durchzog es die Reden der Politiker von Sussex bis zu den
Shetlands. Die britischen Konservativen um Margaret Thatcher benutzten die verbittert
stimmende Vokabel, um den Zustand, aber auch die künftigen Gefahren für Großbritannien
zu beschwören.
Labour brandmarkte die düstere Diagnose der Konkurrenz als Verunglimpfung einer
Gesellschaft, die immer noch zu den tüchtigsten auf dem Globus zähle.
Wahlkampfgetöse? Schlachtenlärm? Hinter all dem lautstarken Streit über das wahre
Befinden der Nation war Volkes Stimme deutlich zu vernehmen.
Die Briten fragen sich, wer denn im Lande noch das Sagen habe: Die gewählten
Volksvertreter oder die herrschsüchtigen Gewerkschaften?
Sie sorgen sich um ihre Arbeitsplätze, um die Zukunft des Wohlfahrtsstaates und das
Überleben der britischen Industrie in einer Welt voller dynamischer Konkurrenten.
Sie ängstigen sich vor einer Überflutung durch farbige Einwanderer aus dem
Commonwealth (1950: 100 000, 1976: 780 000) und vor dem Verlust des insularen
Selbstverständnisses durch kontinentaleuropäische Gleichmacherei.
Die Verfallserscheinungen des Vereinigten Königreiches sind keine Hirngespinste
verantwortungsloser Wahlstrategen.
Viele dieser Schwierigkeiten belasten auch andere westliche Demokratien. Doch was die
Situation der Briten auszeichnet, ist die scheinbare Ausweglosigkeit aus ihrem Dilemma,
scheint das Unvermögen der Elite, die längst erkannte „englische Krankheit“ radikal
auszukurieren.
Erst vor kurzem haben sie – wie unter einem Vergrößerungsglas – entdecken müssen, was
faul ist auf ihrer Insel. Der letzte Winter, im Wahlkampf von Margaret Thatcher immer
wieder beschworen, hat dem Land einen nachhaltigen Schock versetzt.
Vom Fernsehen Abend für Abend ins Haus gebracht, wirkten die winterlichen
Streikereignisse wie der Anfang vom Ende der britischen Zivilisation. Nur Callaghan
behielt die Ruhe: „Ich sehe kein Chaos.“ Doch er blieb allein.

Der Müll türmte sich auch auf den prächtigsten Plätzen Londons, die Ratten sprangen den
Bürgern vor der Nase herum, die Schulen blieben geschlossen, todkranke Patienten wurden
nicht mehr operiert, Tote nicht mehr beerdigt, es gab vielerorts kein Brot, in manchen
Gemeinden floß ungeklärtes Wasser aus den Leitungen. Auf der Strecke blieb nicht nur die
Vernunft, sondern auch eine der ehrwürdigsten Institutionen des Königreichs, die Times.
Mehr noch als die Folgen der Arbeitsverweigerung erschreckte die Briten der schier
„ausländische“ Geist, der hinter den Ereignissen stand. „Wie Kommissare“, so der bekannte
Journalist Peter Jenkins, hielten die Führer der Gewerkschaftskomitees die Streikfront
im Gleichschritt – mit einer Brutalität, die alle Regeln des angestammten fair play
mißachteten.
Teepausen-Mentalität, Streiklust, Investitionsdefizit, Klassenkampf, schlechtes
Management – an Schlüsselworten für den industriellen Abstieg der Insel herrscht kein
Mangel. Was immer die Ursachen der wirtschaftlichen Stagnation sind, ihre Folgen liegen
auf der Hand. Der Führer der Liberalen, David Steele, hat sie bildhaft beschrieben: „Zwei
feindliche Armeen, Management und Arbeitnehmer, starren einander über eine verwüstete
Landschaft verpaßter Möglichkeiten an.“
Die militante Absage einiger Gewerkschaften an die Gelassenheit, die die Inselbewohner
noch immer höher halten als forcierte Zielstrebigkeit oder blinden Wagemut, wirkte
nach. Während Callaghan als freundlicher Premier und als abgeklärter Staatsmann
abwiegelnd durch die Wahlkreise reiste, beschworen die Tories an vorderster Stelle in
ihrem Wahlmanifest die Gefahren des letzten Winters für „Vertrauen, Selbstrespekt,
Vernunft und selbst unseren Sinn für Menschlichkeit“. Margaret Thatcher hatte ohne
eigenes Zutun das Thema ihres Wahlkampfes gefunden: „Mitunter schien es, als befände
sich unsere Gesellschaft am Rande des Zerfalls.“
Selbst die Gegner der Tories werden diese Beschreibung nicht ganz als Schauermärchen
abtun können. Denn eine Erkenntnis haben alle aus dem Gewerkschaftsdrama der
Wintertage ziehen müssen – daß es unkontrollierte Kräfte in ihrem Land gibt, die ihren
Respekt vor den politischzivilisierten Sitten des Landes abgelegt haben.
Dies ist, seit den großen Streiks der 20er und 30er Jahre, eine neue Erfahrung für das
Mutterland der Parlamente, in dem der Glaube an Autorität und Widerstandskraft der
Demokratie so lange keinen echten Anfechtungen ausgesetzt war. Doch der Wandel läßt
sich nicht mehr übersehen: Es gibt mächtigere Institutionen auf der Insel als die etablierten
Parteien, als Westminster und Downingstreet.
Nicht der gewerkschaftliche Dachverband TUC etwa gefährdet die politische Kultur
Großbritanniens. Diese Bedrohung geht vielmehr von den über 400 traditionsbewußten
Einzelgewerkschaften aus, zu denen die zwei Dutzend Verschworenen einer Ost-
Londoner Bäcker-„Union“ ebenso zählen wie das Heer der zwei Millionen Mitglieder
der Transportgewerkschaft mit ihren meist auf Lebenszeit gewählten, autokratisch
herrschenden Führern.

Weder die Konservativen, die 1974 unter Edward Heath ihre Niederlage im Kampf mit den
unbezwingbaren Bergarbeiterverbänden erlebten, noch die Labour Party, die dem Chaos
des Winterstreiks tatenlos zusah, haben den Gewerkschaften bisher Paroli bieten können.

Auch der neuen Regierung stehen in der Innenpolitik als gefährlichste und
unberechenbarste Gegner die Gewerkschaften gegenüber. Die Lohnstopp-Politik von
Labour wird sich schwerlich fortsetzen lassen; denn dort, wo die ersten Gewerkschaften
gegründet und die ersten strikes abgehalten wurden, lebt der militante Geist der
Gründerjahre fort. Zwar ist das Wort „Strike“ bei den britischen Gewerkschaften
inzwischen verpönt und wurde durch den euphemistischen Begriff „industrielle Aktion“
ersetzt. Doch selbst sozialistisch fühlende Mitglieder der Regierung Ihrer Majestät, wie
der Energieminister und Aristokrat Wedgewood-Benn, bestätigen den Gewerkschaften mit
sentimentalem Augenaufschlag die Schutz-und Heimatfunktion für ihre zwölf Millionen
Genossen samt deren Familien und erheben das Recht auf Arbeitsverweigerung um jeden
Preis beinahe zur Pflicht der Werktätigen.

Tatsache ist freilich, daß die Arbeiter im britischen Wohlfahrtsstaat noch immer in
größerer sozialer Unsicherheit leben müssen als ihre Kollegen in Industrienationen wie
der Bundesrepublik. So verführt vor allem die Angst um den Arbeitsplatz immer wieder
zu irrationalen Handlungen, zu jenen Ausbrüchen der „englischen Krankheit“, die sich
dann offenbart, wenn – wie geschehen – 20 Facharbeiter mit ihrer Arbeitsverweigerung
einen ganzen Automobilkonzern lahmlegen. Im letzten Jahr gingen in Großbritannien 9,3
Millionen Arbeitstage durch Streiks verloren, in der Bundesrepublik 4,3 Millionen; die
zweithöchste Streikquote in der deutschen Nachkriegsgeschichte, bei der die Folgen der
Aussperrung noch mitberücksichtigt werden.

Kontinentale Beobachter, aber auch englische Soziologen zucken mit den Schultern:
Sie kennen die Einkommensverteilung der Nation, sie halten an den Klischees des 19.
Jahrhunderts fest und wissen – dies sind die Krisensymptome einer „Klassengesellschaft“
.

Doch die Dinge sind, wie fast alles in Großbritannien, komplizierter, als ein Fremder auf
den ersten Blick zu verstehen glaubt.

In Großbritannien gibt es mehr Klassen als soziologische Kategorien: Zum Beispiel die
Klasse der in Oxford und Cambridge , im BBC, in Schulen wie Eton und Westminster
angestellten Intellektuellen mit traditionell abgestoßenen Jacken im Cord-Look der 20er
Jahre; die Klasse der stets schmuddelig gekleideten Pferdeliebhaber; der Kirchgänger; der
Hundezüchter und Gartenfans; der Ruderer, Fußwanderer und Bibliophilen.

In keinem Land der Welt wachsen allerlei privaten Hobbys und Exzentrizitäten derlei
öffentlich verbindende Kräfte zu, die althergebrachte Unterscheidungsmerkmale wie
„Unter-, Mittel-und Oberklasse“ außer Wirkung setzen, wie in Großbritannien. Anders
gesagt: Die Briten sind in ihrer gesellschaftlichen, öffentlichen Existenz nicht in erster
Linie arm, wohlhabend oder reich, sondern Mitglieder des Kirchenchors, der freiwilligen
Kindergartengruppe, des Elternbeirats, des Klubs oder des Cricket-Teams. Ihr gemeinsames
Forum ist das Pub.
Ein Ausdruck dieser Vielfältigkeit sind auch die zahllosen Gewerkschaften. Einer
Gewerkschaft gehört selbst der erzkonservative Starkolumnist der darniederliegenden
Times Bernard Levin, an, ohne sich zu genieren.
Nachweislich nicht gewerkschaftlich organisiert ist lediglich die königliche Familie; in
Callaghans Kabinett hingegen ist jedes Mitglied Gewerkschaftler. Mehr als 65 Prozent
aller Arbeiter sind in einer „Trade Union“; „closed shop“ ist eine englische Erfindung –
der exklusiv von Gewerkschaftern besetzte Betrieb. Doch das Wort „class war“ käme dem
britischen Arbeiter nicht über die Lippen. Es klingt so kontinental.
Daß heute das gesellschaftskritisch geschulte, ausländische Publikum gleichwohl gebannt
auf den britischen „Klassenkampf“ starrt, mag daran liegen, daß Großbritannien immer
noch, wie Karl Marx vor 130 Jahren schrieb, das beste Land ist, „um die Entwicklung der
bürgerlichen Gesellschaft zu beobachten“.
Sollte es möglich sein, daß hier die sozialen Sparringspartner nicht den Streit der
frühen Jahre fortsetzen, sondern sich – als Vorhut der Europäer – in immer schärferen
Umverteilungskämpfen verzetteln? Diese Kämpfe finden, wie die der britischen
Gewerkschaften untereinander, nicht mehr zwischen „denen da oben“ und „denen da
unten“ statt, sondern quer durch alle Schichten. Der Oxforder Verfassungsrechtler Geoffrey
Marshall fürchtet, daß diese Kämpfe auf Dauer zu einer britischen Verfassungskrise führen;
können: „Margaret Thatcher würde nicht gegen die Gewerkschaften regieren können;
der nächste Labour-Premier wird es, wie alle anderen vor ihm, auch nicht können.“ Der
Londoner Soziologe Colin Crouch ergänzt: „Es bleibt weiterhin wichtig zu wissen, daß die
Labour Party, von den Gewerkschaften gegründet wurde und nicht umgekehrt.“
In dieser ins englische System eingebauten Dauer-Krise tickt, so Marshall, eine Zeitbombe:
Der Marsch der britischen, von Haus aus pragmatischen, das heißt nicht so unbegabten
marxistischen Linken durch die Labour-und Gewerkschafts-Institutionen „Eines Tages
kommen sie an.“
Ihre erste Aufgabe dürfte es sein, das geradezu selbstzufriedene, in sich ruhende
„Klassenbewußtsein“ der britischen Arbeiter in revolutionäre Unzufriedenheit zu
verwandeln. Das ist schwer – der „Feind“ ist ja längst nicht mehr zu sehen, die
Kapitalistenklasse ist unsichtbar; Rolls-Royce liefert mehr Autos nach Kuweit als ans
britische Establishment. Trotzdem – Englands Linke bemühen sich redlich: „The New
Left“, Großbritanniens amorpher Beitrag zu Europas Linksrutsch der 60er Jahre, setzt
sich heute aus ideologisch unterschiedlichen Gruppierungen zusammen, deren Erfolge
indes nicht, wie bei uns, an der Eroberung von Verlagen, sondern am Durchdringen von
Gewerkschaftsorganisationen und der Veranstaltung von Streiks gemessen werden.
Die moralischen Impulse, die den sozialen Forderungen der englischen Linken die
entsprechende Militanz verleihen, stammen gewöhnlich aus dem in der Tat jämmerlichen
Milieu der untersten englischen Einkommensgruppen. Aus den Slums der 20er Jahre sind
sie umgezogen in die Backsteingettos der Nachkriegszeit, von dort in die Betonhochhäuser
der Städte dicht unter den schier permanenten Regenwolken. Immer noch zählen Englands
Statistiker eine Million Haushalte ohne eigenes Bad oder Dusche; immer noch gibt es 1,2
Millionen Haushalte ohne WC, dieser britischsten aller britischen Erfindungen.
Anders als in der Bundesrepublik mit ihren Angestellten-Heeren besteht die britische
Arbeitnehmerschaft in der Mehrheit noch aus „Arbeitern der Faust“ – Soziologen rechnen
64 Prozent; von den restlichen 36 Prozent zählen sich die meisten der middle class zu,
jener sparsamen, von den Labour-Regierungen gepeinigten Gruppe, die Callaghans
Schatzkanzler Healey im Sinn gehabt haben mag, als er 1974 ankündigte, er werde eine
gewisse Schicht von Steuerzahlern „auspressen, bis die Kerne quietschen“.
Fortan fingen die Briten an, kräftiger als je zuvor zu sparen (während die Kaufkraft des
Pfundes unaufhörlich verfiel).
Englands Mittelklasse, so der Londoner Journalist Patrick Hutber, zeichnet sich dadurch
aus, daß sie es hinnimmt, die „Erfüllung ihrer Wünsche zu verschieben“. Man sieht es ihr
an.
Statt ans „Med“, das Mittelmeer, zu fahren – jahrelang eine Art britisches Binnenmeer –,
legen immer mehr Mittelklässler ihr Geld auf die hohe Kante, um ihre Kinder auf die teuren
Privatschulen zu schicken und so den einmal erreichten sozialen Status zu retten.
In der Tat: Die privaten „Public Schools“ sind die unvermeidbaren, qualitativ
hochstehenden Bildungs-und Initiations-Stufen der englischen High Society, aber auch des
geschäftigen Establishments in Wirtschaft und Politik, über 70 Prozent aller liberalen und
konservativen Parlamentarier haben ein privates College besucht.
In der Vorstandsetage des britischen Kapitalismus, den Londoner Banken, liegen die
Prozentzahlen etwas höher – bei 80 Prozent. Da ihre Gehälter, wie die aller anderen,
durch Steuern auf Mittelklasseniveau reduziert werden, sprach im Wahlkampf Margaret
Thatcher auch für sie: „Wir alle“, rief sie in ihrem ins schrecklich Schrille reichenden
Tonfall den Wählern zu, „wir alle sind bereit, für unsere Familien zu arbeiten; doch nicht
für den Schatzkanzler. In einem freien Land arbeiten die Menschen gerne schwer – aber
nur, wenn’s sich lohnt!“
Das erste, was Margaret Thatcher abzuschaffen gedachte, war die hohe Besteuerung des
Mittelstandes. (Ein berühmter englischer Philosoph kündete seinen Kollegen daraufhin die
Publikation neuer Werke an, die er bisher aus Steuergründen verschoben hatte.) Tatsache
ist:
Die Ausgaben der öffentlichen Hand, gespeist aus Healeys schier unerschöpflichem
Steuertopf, hatten sich zwischen 1973 und 1978 verdoppelt.
Labours Steuereintreiber holten 1967 bis 68 10,8 Milliarden Pfund in die Regierungs-
Schatztruhe; ein Jahrzehnt später waren es dann sogar 36,4 Milliarden Pfund. Diese
Entwicklung kam nicht von ungefähr:
Das Parteimanifest von Labour hatte im Jahre 1974 ohne Umschweife gefordert, „eine
fundamentale und unumkehrbare Veränderung im Gleichgewicht von Macht und Reichtum
zugunsten der arbeitenden Bevölkerung und ihrer Familien“ herbeizuführen.
Fünf Jahre später „rühmt“ sich Großbritannien des höchsten Steuersatzes innerhalb der EG
(83 Prozent; Deutschland: 56 Prozent). Investitionsgewinn an der Börse wird mit bis zu
98 Prozent Steuern bestraft. Zwar ist es „immer noch möglich, sehr reiche und sehr arme
Menschen in England zu treffen“, wie der linksliberale Guardian eher betrübt feststellt,
doch der Steuerhobel macht die Masse der Briten gleich. Die Superreichen werden ärmer,
die Ärmsten werden „reicher“, doch der Mittelstand bleibt genau da, wo er ist; das heißt: er
bleibt stecken.
In der einstmals so mächtigen Schmiede der Welt drehen sich die Räder heute langsamer
als anderswo. Noch während der sechziger und zu Anfang der siebziger Jahre lag
die britische Industrie mit ihrem Produktionszuwachs im Mittelfeld der miteinander
konkurrierenden Nationen. Von 1973 bis 1978 verlangsamte sich ihr Produktionswachstum
drastisch. Während dieser Zeit produzierte ein. britischer Arbeiter jährlich nur um 0,6
Prozent mehr. In Italien hingegen stieg gleichzeitig die Produktion pro Mann und Jahr um
1,3 Prozent, in Frankreich um 2,7 und in der Bundesrepublik um 3,3 Prozent. Das machte
sich in den Gehältern bemerkbar.
Kaum noch Privilegien
Ein Manager in einem führenden multinationalen Konzern blieb vor einem Jahr in
Großbritannien von seinem Bruttolohn von 60 800 Mark ein Nettobetrag von 32 300 Mark.
Sein deutscher Kollege in gleicher Stellung verdient vor der Steuer 129 016 Mark und nach
der Steuer 75 456 Mark. Derlei Differenzen sprechen sich zumal nach dem Anschluß an
Europa auf der Insel herum und senken die Stimmung im Management. Die Reduktion der
Spitzensteuern auf die Gehälter würde zwar den britischen Schatzkanzler nur 400 Millionen
Pfund kosten – doch längst hat sich die Schröpfung der oberen Mittelklasse zu einem
ideologischen Dogma verhärtet, dem sich der konservative Premier Edward Heath beugte.
Margaret Thatcher aber machte sich die ökonomischen Überzeugungen des 19.
Jahrhunderts zu eigen – eben jener Epoche, in der Großbritanniens Bürgertum zur
ökonomischen und politischen Macht vorstieß. Ihre Hoffnung auf die alles heilenden Kräfte
des Marktes, genannt Neo-laissez-faire, vorgetragen mit vagen Versprechungen und eher
diffusen praktischen Plänen, trugen ihr schließlich Schatzkanzler Healeys abschätziges
Etikett ein, hier spreche „La Passionara der Mittel-Klassen-Privilegien“.
Tatsache ist, daß die Mittelklasse der Insel kaum mehr über Privilegien verfügt: Selbst
Oxford und Cambridge sind nicht mehr die Reservate der elitären Selbstrekrutierung,
sondern längst in einem weitaus stärkerem Maße als irgendwo sonst auf dem Kontinent den
Hochschul-Hoffnungen von Arbeiterkindern angepaßt. Hier stimmt das Klischee von der
Klassengesellschaft nicht mehr.
Der nächste Tort, den Labour in ihrer Regierungszeit seit 1974 der Mittelklasse – sofern sie
sich zum Tory-Flügel zählt – antat, war die Einführung der Gesamtschule ( comprehensive
school); unabhängigen Schulen wurden die Subventionen gestrichen.
Die Tories protestierten zwar gegen derlei „erzieherischen Vandalismus“, aber über die so
individuelle Landschaft der politischen Kultur Großbritanniens legte sich der Mehltau des
Zentralismus.
Am Nuffield College in Oxford, das von dem Autoindustriellen Morris (er hatte als
Fahrradhändler am Orte angefangen) gestiftet wurde, stellte der Politikwissenschaftler
Nevil Johnson schließlich in seinem Buch „Die englische Krankheit“ die vernichtende
Diagnose: Versagt habe in England nicht nur die Wirtschaft, sondern das Prinzip der
Parlamentssouveränität – Ministerien und Premier hätten alle Macht bei sich versammelt,
und das Prinzip lokaler Selbsthilfe sei mißachtet, wenn nicht vernichtet. Mit letzter
Taktlosigkeit empfahl der Gelehrte die Nachahmung deutscher politischer Einrichtungen
und Gesetze. „Berufsverbot“, das neue britische Lehnwort, war nicht dabei.
Die Briten quälen andere Ordnungs-und Polizeiprobleme als uns: Law and Order oder
die Aufgabe, eine „perplexe Gesellschaft“ (Ex-Scotland-Yard-Chef Sir Mark) vor sich
selbst zu schützen, erweist sich als englisches Wochenendproblem: Wenn die großen
Fußballklubs aufeinanderprallen, fliegen auf den Stadientribünen die Fetzen und auf den
Anmarschwegen der Fans nageln die Geschäftsleute oft ihre Schaufenster zu wie die
Basarbesitzer im revolutionären Teheran.
„Wir haben nicht genug Polizisten“, wetterte Margaret Thatcher; es mangele an Respekt
vor dem Gesetz: Und dies trotz der (verglichen mit 1969) viermal höheren Ausgaben für
Englands traditionell friedfertigen Bobby.
„Vandalismus“, der halbstarke Terror in Londons öffentlichen Verkehrsmitteln und
in Gesamtschulen der Metropolen, kontrastiert mit der – gemessen an Deutschland –
himmlischen Gemütlichkeit der Provinz: Der hierzulande traditionelle Dorfpolizist ist in
Großbritannien unbekannt oder Opfer von Sparmaßnahmen.

Das Sonderproblem Nordirland – seit 1969 kamen in Ulster über 1800 Menschen um und
über 21 000 wurden verletzt – begleitete, wenngleich nicht in der Brutalität der 70er Jahre,
alle englischen Regierungen seit 1921.
Spitzenmeldungen über die Untaten der IRA, die die Schlagzeilen der Presse auf der ersten
Seite erobern, müssen schon mit besonders gräßlichen Vorfällen aufwarten – was sonst
rings um Belfast geschieht, wird vom englischen Publikum mit Lethargie aufgenommen.
Zwar wurden seit einem Jahrzehnt 370 Soldaten und 117 Polizisten in Nordirland
ermordet, zwar kündet der jüngste parlamentarische Bennett-Report von gewalttätigen
Verhörmethoden in Ulsters Gefängnissen – doch die Masse der englischen Wähler hat
andere Sorgen: Schlägereien zwischen Streikposten vor Fabriken mit arbeitswilligen
Streikbrechern; illegaler Auslieferungsboykott Londoner Postarbeiter; die militanten
Hundertschaften junger Trotzkisten, die sich jedem sozialen Konflikt unter stets neuen
Titeln anschließen (wie zum Beispiel als Anti-Nazi League verkleidet); die faschistische
„Nationale Front“, die vorzugsweise durch Stadtviertel farbiger Einwanderer zu
demonstrieren beliebt; all dies spornt nicht nur die britischen Konservativen zum Ruf nach
dem Henker an.
Bei der letzten, diesbezüglichen Unterhausabstimmung votierte (im Jahre 1975) noch eine
Mehrheit von 129 Members of Parliament, vornehmlich Labour-Abgeordnete, gegen derlei
Radikalabschreckung. Dem stets lauter erschallenden Ruf nach dem Henker widerspricht
Londons Außenpolitik freilich in Afrika – hier sieht der junge Außenminister Owen kein
moralisches Problem in Verhandlungen mit afrikanischen Terroristen, die, im Namen von
Zimbabwes (Rhodesiens) Freiheit, Unschuldige abschlachten.
Mit doppeltem Maß mißt Großbritannien auch Europa:
Doch ist Europa wirklich an allem schuld, was die Briten drückt? Nur standfeste Pro-
Europäer wie Edward Heath scheuen sich nicht vor einer kritischen Selbsteinschätzung.
Sein Urteil über die Grundeinstellung seiner Landsleute zum Neuner-Klub deckt sich
weitgehend mit den Ansichten der meisten EG-Partner, denen inzwischen Zweifel an
einigen britischen Tugenden gekommen sind:
Fairneß? Die Widerborstigkeit der Abgesandten des Königreiches in den europäischen
Entscheidungsgremien ähnelt längst dem Verhalten eines Mitgliedes, das zwar verspätet
und nur nach eifriger Fürsprache in einen feinen Verein aufgenommen worden ist, sich
dadurch aber nicht abhalten läßt, Satzung und Ziele laufend in Frage zu stellen.
Pragmatismus? Davon ist im Zusammenleben der Briten mit den Kontinental-Europäern
nicht viel zu spüren. Vielmehr scheinen sie einen Glaubenskrieg um die EG-Mitgliedschaft
zu führen, bei dem sich ideologische Engstirnigkeit, Fremdenfeindlichkeit und Egozentrik
austoben.

Klugheit? Auch nach sechs Jahren Mitgliedschaft akzeptieren die meisten britischen
Politiker die Gemeinschaft offenbar nicht als das, was sie ist: Ein Interessenverband, in
dem mit geduldigem und geschicktem Verhandeln jeder zu seinem Recht kommen kann.
Schließlich gründet sich Großbritanniens enervierendes Selbstbewußtsein in Brüssel,
wie vieles andere in seiner Geschichte, auch auf einer ebenso gefeierten wie isolierten
Vergangenheit: Länder wie „Luxemburg“ oder „Italien“ gelten den Briten kaum mehr als
der kleine westliche Nachbar Irland; diesen exotischen Ländern voraus hat man nicht nur
mehr als 50 Militärkapellen mit beliebten alten Melodien, sondern auch die Gewißheit, als
hochentwickelte Industrienation nicht schlecht dazustehen.
Trotz gewerkschaftlicher und anderer Handikaps liefert Großbritannien auch heute Beweise
für seine Leistungsfähigkeit als hochentwickelte Industrienation. Das erste Luftkissenboot,
der erste senkrechtstartende Kampf-Jet und das erste zivile Überschallflugzeug wurden
weitgehend von Engländern entwickelt. Englische Naturwissenschaft ist immer noch first
class.
Die Churchill-Industrie blüht
Schwersten Krisen seines Selbstbewußtseins entkommt Großbritannien im übrigen mit
einer akademischen Nostalgie: In keinem anderen Land der Welt würde die Frage des
(deutschen) Geschichtsphilosophen Dilthey – „Ist Biographie möglich?“ – mit einem so
donnernden „ja!“ beantwortet werden wie in Großbritannien; kein Premier, über den es
nicht fünf bis sechs ausgezeichnete Bücher gibt (seine Memoiren ausgenommen).
Die historische Churchill-Industrie blüht.
Der Zweite Weltkrieg wird in jeder Wintersaison vom BBC noch einmal gewonnen; in
den Gräben Flanderns kennen sich die Kinder Albions, dank endloser TV-Serien, mit
verbundenen Augen aus.
Wie ein Mann, vor dessen Augen – nach dem Sprung vom Tower – noch einmal das ganze
Leben als Film abläuft, so führt Großbritanniens Gelehrtenrepublik dem interessierten
Publikum noch einmal die britische Geschichte seit 1066 vor.
Die Nation ist in ihre eigene Vergangenheit vernarrt – und es ist weiß Gott nicht die
schlechteste, die Europa anzubieten hat.
Doch über dem Großbritannien liegt immer noch der Schatten der industriellen Revolution
(ein Begriff, den der Großvater des Historikers Toynbee erst im Jahre 1890 erfand) – jener
Ära, da Millionen von Menschen sich in rußschwarzen Mietskasernen der Ballungszentren
wiederfanden; da sich Kinder – wie zum Beispiel in Friedrich Engels Textilfabrik
in Manchester – zu Tode schufteten, ehe ihre Eltern sich aufrafften zum Streik, zur
proletarischen Aktion, die auf gerechte Teilhabe am neuen Reichtum des Empire zielte.

Zwischen jener Epoche und der Gegenwart liegen die Übereinstimmung schaffenden Jahre
der beiden Weltkriege: Nichts geht britischen Politikern beider Parteien leichter über die
Lippen, als die Beschwörung des Geistes von Dünkirchen, von Großbritanniens great hour,
großer Stunde.
Doch die heroischen Zeiten sind vorüber. Auf der Tagesordnung steht Großbritanniens
Zukunft. Wie soll es weitergehen – mit noch mehr staatlicher Lenkung, noch mehr
Regierungskontrolle von Löhnen, Preisen und Investitionen, mit noch mehr Subventionen
und vielleicht sogar mit protektionistischen Maßnahmen, wie es von Labour erwartet wird?
Oder mit einer Wiederbelebung des „freien Spiels“ der Kräfte“, mit Steuersenkungen,
Beschneidung des staatlichen Wohlfahrtwildwuchses, mit einer Zähmung der
Gewerkschaften, wie es die Tories fordern?
An diesen Grundsatzfragen werden sich das neugewählte Parlament und die neugewählte
Regierung nicht vorbeimogeln können.
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